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Ein leiser Film mit lauter Botschaft

Eine Kritik zu Una Escuela en Cerro Hueso.

Emas Familie fällt auf. Sie ist weiß, aus der Großstadt und auch Ema ist nicht wie die anderen Kinder in der ersten Klasse der neuen Schule. Nur, wer die Filmbeschreibung gelesen hat, weiß: Die sechsjährige Ema hat Autismus. Eine Entwicklungsstörung, die sich oft im sozialen Umgang und in der Kommunikation bemerkbar macht. Dem Publikum bleibt diese Information jedoch vorenthalten, erst am Ende des Films fällt das Wort Autismus. Dadurch gelingt es der Regisseurin Betania Cappato, einen vorurteilslosen Raum zu schaffen, in dem die Zuschauenden den Alltag der kleinen Ema unvoreingenommen erleben können.

Una Escuela de Cerro Hueso besteht fast bruchstückhaft aus chronologisch aneinandergereihten Segmenten, stets getrennt durch einige Sekunden schwarzen Screen: Ema im Schulunterricht, Ema zuhause, Emas Eltern. Sie wirken wie assoziative Gedanken, die Cappato aus ihrer eigenen Kindheit erinnert. Denn: Wie am Ende erklärt wird, ist der Film autobiografisch und dem Leben des autistischen Bruders der Regisseurin nachempfunden.

Dieser wurde wegen seiner Diagnose an 17 Schulen in Argentinien abgewiesen, die 18. nahm sich schließlich seiner an. Es war die Hingabe der Lehrkräfte, die ihm half, Anschluss zu finden und schließlich nach einem Jahr, das erste Mal zu sprechen.

Eine Parallele, die sich auch bei Ema wiederfindet. Auch sie spricht nicht und auch bei ihr sind es die beiden Lehrerinnen, die Ema jedes Mal behutsam, aber bestimmt zurück zu den anderen Kindern geleiten, wenn sie abgelenkt ist und lieber ihr eigenes Ding macht. Ihre Mitschüler:innen nehmen Ema, wenn auch anfangs etwas prüfend, liebevoll in ihrer Klasse auf. Eine vielleicht zu träumerische Darstellung der Realität. Keine einzige Auseinandersetzung, kein einziges böses Wort. Von den anderen Kindern lässt sich Ema sogar kleine Sticker ins Gesicht kleben, erst als ihre Mutter sie am Abend entfernen will, wehrt sie sich gegen die Berührung im Gesicht. Ihre Fingernägel schneidet ihre Mutter heimlich, wenn sie schläft.
Der schwarze Screen nach jeder Assoziation lässt die neue Szene sehr viel intensiver wirken. Meist beginnt sie mit einem Geräusch: Hände kratzen beim Abwaschen an der Pfanne, Wasser fließt, der Schwamm quietscht. Der Wind raschelt durch die saftig grünen Blätter einer Weide. Gummistiefel platschen durch schlammige Pfützen.

In zwei Szenen wird die enge Bindung zwischen Ema und ihren Eltern besonders deutlich – auch wenn sie stets non-verbal ist. In der ersten sitzen Ema und ihr Vater am Esstisch und knabbern an geröstetem Kürbis. Immer, wenn ihr Vater schmatzt, schmatzt Ema, immer wenn er seinen Kopf schief legt, tut sie es auch. Es ist ihre eigene Art, miteinander zu kommunizieren.

In einer anderen Szene zeigen Emas Eltern ihr, wie sie ein Fohlen streicheln kann. Mit vorsichtigen Bewegungen führen sie die kleine Hand ihrer Tochter auf und ab. Ema scheint glücklich, die Familie umarmt sich sogar, die Mutter weint vor Freude über die ungewohnte Nähe. Ganz am Ende des Films wird diese Szene wiederaufgegriffen, als eine Dorfbewohnerin bemerkt, dass das alte Pferd der Familie schwanger ist. Unklar ist, ob die erste Szene ein Blick in die Zukunft war oder ob es sich um ein anderes Pferd gehandelt hat.

Auch Emas Eltern versuchen sich im Dorf zu integrieren. Ihre Mutter versucht gemeinsam mit den Anwohnenden den Grund für das Fischesterben in dem kleinen Ort am Paraná-Fluss zu finden, ihr Vater engagiert sich in der Dorfgemeinschaft mit einem Gemüsegarten-Projekt. Diese Handlungsstränge werden jedoch nicht weiter ausgeführt.

Ema verändert sich im Verlauf des Films merklich, lässt immer mehr Nähe zu und findet in ihrer Klassenkameradin Irene sogar eine enge Freundin, mit der sie auf dem Dorffest ausgelassen tanzen kann.

Una Escuela de Cerro Hueso ist ein leiser Film, der auch ohne die Worte der Protagonistin auskommt und vielleicht gerade deshalb laut im Gedächtnis bleibt.

08.06.2021, Vivien Krüger

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