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Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz - ein System zum Scheitern?

Ein Hintergrundartikel zu "La Mif"

In dem Schweizer Film „La Mif“ portraitiert Regisseur und Drehbuchautor Fred Baillif den Alltag und die Probleme junger Mädchen und deren Betreuer:innen in einem Kinder- und Jugendheim. Die Systeme dahinter scheinen wirr und teilweise nicht auf das Kinderwohl ausgelegt zu sein. „Ein Kinderheim ist kein Gefängnis“ sagt Heimleiterin Lora ein Mal, als sie sich wegen eines Vorfalles im Kinderheim einem Ausschuss stellen muss. Doch wie sieht dieses System hinter der Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz aus? Ein Blick hinter die Kulissen verrät, wieso die Strukturen bei „La Mif" so undurchschaubar wirken.

Die Schweiz ist bekannt für seinen Föderalismus - das Land gliedert sich in 26 Kantone, die meisten Gesetze entstehen auf dieser Ebene. Bundesweite Regelungen zur Kinder- und Jugendhilfe existieren nur sporadisch und beziehen sich nur auf die Ernstfälle: wann in das Elternrecht eingegriffen werden darf, welche finanziellen Mittel für die außerschulische Bildung zur Verfügung gestellt werden können und welche Vorraussetzungen für die Pflege oder Adoption eines Kindes vorhanden sein müssen. Alles andere passiert kantonaler Ebene, so gibt es bei knapp 8,5 Millionen Einwohner:innen quasi 26 verschiedene Systeme zum Kinder- und Jugendschutz. Doch hier hört es noch nicht auf: unter den 26 Schweizer Kantonen stehen insgesamt 2495 Gemeinden, deren Regelungen teilweise stark variieren.

Die stationäre Betreuung von Kindern und Jugendlichen ist neben ambulanter Jugendhilfe, Pflegekinderhilfe, sowie offener Jugendarbeit nur ein Teil der Kinder- und Jugendhilfe. Heimplatzierungen sind in der Schweiz grundlegender Bestandteil des Systems, so gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Einrichtungen und Angeboten, von einem dauerhaften Zusammenleben mit den Betreuer:innen, so wie es in „La Mif“ der Fall ist, bis hin zu wechselnden Heimmitarbeiter:innen.
Zur stationären Betreuung gibt es allerdings kaum systematische Untersuchungen, nur wenige Studien befassen sich mit den Auswirkungen von dem Aufwachsen in einem Heim oder untersuchen die Entwicklung der Bewohner:innen. Jene, die vorhanden sind, kritisieren vor allem die Übergänge aus dem Heim in ein späteres Berufsleben und zur Selbstständigkeit. Forscher:innen, die über mehrere Wochen täglich das Leben in Pfegeheimen mitverfolgten und mit den dort Aufwachsenden sprachen, stellten die Widersprüchlichkeit in den Strukturen der Heime in ihren Ergebnissen dar. So sollen die Jugendlichen die Selbstständigkeit erlernen, von der sie durch die enge Betreuung in einem zeitlich und gesellschaftlich begrenzten Rahmen im Pflegeheim nie Gebrauch machen müssten. Erreichen sie die Volljährigkeit, erlischt in den meisten Fällen das Recht weiterhin in ihrem Kinder- und Jugendheim zu leben, und die jungen Erwachsenden sind von dem einen auf den anderen Moment auf sich alleine gestellt.

Grundlegendes Ziel des Schweizer Kinder- und Jugendschutzes ist es, die Entwicklungschancen jener Kinder sicherzustellen, die aus dem familiären Umfeld nicht die nötige Unterstützung bekommen können, sowie natürlich der Schutz vor psychischer oder physischer Gewalt und Lebensumständen, die nicht kindergerecht sind. Trotzdem ist es eine rechtliche und bürokratische Hürde in die Freiheit und Rechtsstellung der Eltern einzugreifen. Dieser Eingriff, der „Intervention“ genannt wird, muss oft gegen den Willen der Eltern und unter Zwang geschehen, diese Situation an sich kann für die Kinder und Jugendlichen die psychische Belastung noch verstärken. Und auch wenn in das elterliche Recht eingegriffen wird, kann dieses von den Betreuer:innen nicht ersetzt werden. An oberster Stelle steht immer noch die Schweizer Gesetzgebung und die Regelungen der Gemeinden und Kantone. Keine Erziehungsperson im Heim kann eine rechtliche Elternrolle für die Aufwachsenden einnehmen, sich für sie einsetzten oder Entscheidungen treffen, ohne die Gesetze als Handlungsvorgabe beachten zu müssen. Eingriffe in Familien dürfen nur dort erfolgen, wo es keine Alternativen gibt, nur soweit und stark wie notwenig und so schwach wie möglich. Das bedeutet, dass eine Rückkehr zum Elternhaus, wenn irgendwann möglich, erfolgen soll. Die Kinder und Jugendliche können oftmals nicht selber entscheiden, wo sie aufwachsen möchten, wenn es rechtlich keine Einwände gegen das familiäre Umfeld gibt.

Die Tatsache, dass sich in stationärer Betreuung aufwachsende junge Menschen nie sicher sein können, wie lange sie in dieser Einrichtung noch bleiben können, was danach passiert oder nach welchen Regelungen Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden, kann nicht im vollen Wohle der Kinder und Jugendlichen stehen und schafft eine strukturelle und gesellschaftliche Benachteiligung für sie.

Die Frage, inwiefern das System der Kinder- und Jugendhilfe verändert werden muss, ist vermutlich zu umfassend und kompliziert, als dass sie sofort beantwortet werden könnte. Jedoch sollte das Kindeswohl und ein behütetes und sicheres Aufwachsen immer an erster Stelle stehen, die Betroffenen trotz ihrer Unmündigkeit in Entscheidungen über ihr Leben mit einbezogen werden und transparent und respektvoll mit ihnen umgegangen werden. Das wäre ein erster Schritt, um die Probleme solcher betreuten Wohnheime, wie sie in „La Mif“ aufgezeigt werden, anzugehen.

Quellen:
Edith Maud Piller, Stefan Schnurr: Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2013. ISBN: 978-3-531-19061-7
Fachhochschule Nordwestschweiz: Institut Kuder- und Jugenhilfe. Muttenz 2021. https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/soziale-arbeit/institute/institut-kinder-und-jugendhilfe

02.06.2021, Clara Bahrs

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